Wachsen ist cooler als erwachsen sein

von Elisabeth Michel-Alder

Leitbild-Revolution

Die Ideale kippten in den 60iger Jahren, als Mütter und Väter begannen, die selben Klamotten wie ihre Kinder zu kaufen und spazieren zu führen. Die Jugendlichkeit der Beat-Generation wurde - wie der amerikanische Kulturwissenschafter Robert Harrison am 5.8.2016 in der NZZ erklärt - zum neuen Standard.

Zuvor strengten sich die Teenies an, rasch erwachsen zu werden, um an gesellschaftlichem Einfluss, Macht, Respekt und Prestige teilzuhaben. Über Jahrhunderte hinweg setzten die Erwachsenen in der Mitte, der Blüte ihres Lebens, das Mass. Nun, nach der Revolution des Leitbildes, färbte sich das Älterwerden negativ ein und wurde reichlich mit zugeschriebenen Mängeln ausstaffiert.

Die Gesellschaft habe sich in unseren Breitengraden nicht demografisch, aber kulturell massiv verjüngt, meint Harrison. Dabei denkt er an den Hype rund um wissenschaftliche, technische und künstlerische Innovationen (oder Formen des Zusammenlebens), die Herkömmliches ablehnen und überwinden. Parallel dazu registriert er einen bedenklichen Verlust an verfügbarer Tradition, Kontinuität und Weisheit. Dieser schlägt sich in Orientierungslosigkeit, schwacher Urteilskraft, gestörter Identitätssuche und damit Anfälligkeit für Rattenfänger und psychosozialer Überforderung nieder. Man kann heutzutage gut funktionieren, sogar als Politiker, ohne historische und kulturelle Zusammenhänge zu verstehen. Doch ohne reflektierte Verbindung zwischen Herkunft und Zukunft versteht man sich und die Welt letztlich hier und heute nicht.

Vielleicht bewegt sich das Pendel grosser Wertschätzung gelegentlich wieder etwas weg vom Jugendlichkeitsideal in Richtung "erwachsene Reife"? Ich stell' mir das für Jung und Alt ziemlich befreiend vor. Und nur auf den ersten Blick bedrohlich für unsere Arbeitswelt.

 

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